“Staubfänger” – Eine Erzählung

“Staubfänger” – Eine Erzählung

Es war ein ganz gewöhnlicher Sonntagmittag in dem kleinen Städtchen. Die Blumen blühten, die Kinder spielten auf den Spielplätzen oder in Parks und die Eltern genossen die erstaunlich warmen Temperaturen des Frühlings auf den Terrassen der Cafés mit einem schönen Stück Torte und einem Milchkaffee. Normalerweise würde Jakob Hansen mit den Kindern der Meiers Frizzbee oder Cowboy und Indianer spielen und Theresa Hansen mit einem guten Buch in der Sonne liegen oder mit ihren Freunden den Basketballern aus der Parallelklasse zusehen und den ein oder anderen Seufzer von sich geben. Auch die Eltern würden auf der Terrasse sitzen; Sarah Hansen würde mit der Nachbarin über irgendwas tratschen, wer wen bei Greys Anatomie geküsst hat zum Beispiel, und Peter Hansen mit seinen Kumpels darüber diskutieren, warum der Starspieler jenes Fußballvereines verschiedene Tore versemmelt hatte.
Aber diesen Sonntag war etwas anders, denn die Hansens zogen um. Sarah Hansen hatte überraschend das Zweithaus ihrer (sehr vermögenden) Patin vererbt bekommen und da es abbezahlt und ohne Schulden war und das eigene Haus beim nächsten Sturm umgeweht werden könnte, zogen sie mit Sack und Pack vier Straßen weiter. Die gierige Verwandtschaft der Patin war bei der Testaments-Vorlesung überaus eifersüchtig auf die gute Sarah gewesen, was sich mit der Zeit änderte, weil die gesamte Inneneinrichtung des Hauses an den Rest verschachert wurde. Seit ca. zwei Wochen stand das Haus komplett leer, von ein paar Bildern an der Wand, Geschirr und Holz für den Kamin im Wohnzimmer abgesehen, und die Familie war zum Umzug bereit. Nach einer fleißigen Putzaktion wurde die ganze Einrichtung verpackt und seit Samstagabend von missmutigen Möbelpackern, die der Vater organisiert hatte, in das neue Haus kutschiert.
Die einzige Aufgabe, die noch vor der Familie stand, war das Entrümpeln des Dachbodens, der von ihnen seit gefühlt hundert Jahren nicht mehr betreten worden war. Seit den frühen Morgenstunden rutschten Peter und Sarah in jahrealtem Dreck herum, um die Kisten nach unten zu befördern und das ein oder andere wegzuwerfen. Von Zeit zu Zeit trugen sie Kisten entweder in den Transporter oder neben die Mülltonnen. Jetzt tippelte Jakob an der Hand seiner großen Schwester Theresa die knarzende Treppe hinauf, als der Vater eine große Kiste auf den Boden stellte. Sofort wirbelte sie Staub auf und hüllte Peter komplett ein. Jakob grinste. „Na ihr beiden. Alles fertig?“, hustete Peter, als er dramatisch aus der Staubwolke trat. „Ja längst. Deshalb wollten wir fragen, ob wir hier irgendwie helfen könnten“, fragte Theresa. Nun tauchte auch die Mutter aus der Wolke auf: „Gerne. Dort hinten stehen eure Kisten. Unnötiges oder Kaputtes bitte in die Plastikbeutel packen. Und du kannst gleich bei deiner Steinsammlung anfangen, Jakob, die kommt nicht mit.“ Sie drückte ihm die Tüten in die Hand und Theresa zog ihren betrübten Bruder in Richtung Kisten. Als erstes pustete sie den Staub vom ersten Karton, was Jakob zum Niesen brachte.
Außer der heißgeliebten Steinsammlung landeten noch Benjamin Blümchen CDs, Platstikwerbegeschenke von McDonalds, Pokémon- Karten, die laut Jakob voll out waren, und vollgekritzelte Malbücher in der Tüte sowie unzählige Bravos, die Theresa ein bis zweimal gelesen hatte, und die Plüschtiere mit abgekauten oder fehlenden Gliedmaßen. Stunden vergingen, aber trotzdem standen noch einige Kartons herum, die nicht alle mitgenommen werden konnten, von denen sich die Familie aber dennoch nicht trennen konnte. „Wenn wir sterben, können wir sowieso nichts davon mitnehmen. Was ist mit dem Puppentheater? Mit dem spielt doch keiner mehr“, meinte der Vater und packte beherzt den hölzernen Rahmen. „Nein!“, schrieen die Kinder und hielten es fest. „Weißt du nicht mehr, wie oft wir euch was vorgespielt haben…?“
… Es war an einem Wochenende. Die Kinder hatten schon die ganzen Tage, seitdem sie das Theater von ihrer Oma geschenkt bekommen hatten, damit geübt. Jetzt führte die kleine 9-jährige Theresa ihre Eltern, die eine Augenbinde trugen, zu den vier Stühlen, auf denen schon ihre Großeltern Platz genommen hatten. Als der 6-jährige Jakob die Binden abnahm, erblickten sie ein Schild, auf dem mit Filzer krakelig geschrieben war: „Primjere von „Kasper und Prinzesin Karla“, presentirt von Jarkob und Theresa“ und das Puppentheater mit dem vorgezogenen roten Samtvorhang. Jakob verschwand sofort wieder hinter dem kleinen Theater, das vor dem Fernseher stand. „Hallo Mama, Papa, Oma und Opa. Schön, dass ihr zur Premiere von unserem Stück da seid. Wir fangen jetzt an, also seit jetzt ruhig.“ Kichernd verschwand die kleine Theresa hinter dem Vorhang, der nun langsam aufgemacht wurde. Plötzlich erschien eine kleine geschnitzte Handpuppe mit einer rotblauen Mütze mit Glöckchen dran, die jene aufgeregt hin und her schwang. „Tri, Tra, Talala, Tri, Tra, Tralala, der Kasper der ist wieder da“, sangen die Kinder und die Erwachsenen lächelten. „Ich bin der Kasper und ich erzähle euch nun von meiner Freundin, der Prinzessin Karla“, sprach Jakob und eine andere Puppe im rosa Kleid und zwei blonden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen gesellte sich zu ihm. „Das bin ich!“, rief Theresa und bewegte ihre zierliche Hand so, dass es aussah, als ob Karla mit Kasper Händchen hielt und einen Spaziergang machte. Stolz sahen die Zuschauer dem niedlichen Spiel der Kinder zu, in dem noch ein Drache auftauchte, der Karla entführt hatte, ein Polizist, der immer dann, wenn der Drache da war, wegsah und von Kasper angeleitet wurde, wo er denn langlaufen müsse und die Königin, die Kasper entweder weinend Vorwürfe machte oder unfähig kluge Ratschläge verteilte. Als Kasper dann endlich die Prinzessin Karla befreit und den Drachen mit einer Keule verprügelt hatte, feierten sie Hochzeit bei der die Königin vor lauter „Freude“ von Theresas Hand fiel. Als das Stück dann beendet war und die meisterhaften Puppenspieler sich vor dem Theater verbeugt hatten, schlossen die Eltern sie in die Arme und wirbelten sie im Raum umher, als ob sie in einem Mixer wären.
…  „Na gut, wir behalten es. Aber was ist mit dem kaputten Fahrrad da in der Ecke. Das steht hier schon seit Jahren rum“, meinte Sarah dann. Ganz erschrocken warf sich Peter vor seinen Schatz. „Das können wir doch nicht wegwerfen. Weißt du nicht mehr…?“
…Mittwoch. Peter war bei einer Singlefeier und da saß sie an der Bar. Ihre roten Haare fielen ihm auch in dem Lichtermeer aus blau und gelb besonders auf. Er war ja eigentlich kein Aufreißer und hatte in seinem jungen Leben von 34 Jahren erst zwei Freundinnen gehabt, trotzdem fasste er den Mut, sie anzusprechen. Wie er es in diversen Filmen gesehen hatte, setzte er sich lässig neben sie und bestellte einen Whiskey, die einzige Spirituose, bei der er dachte, sie hätte Stil. Er sah ihr ins Gesicht. Ihn faszinierten sofort ihre Augen, die etwas versprühten, was ihn leicht fühlen ließ. Wie als wäre er allein mit ihr im Raum und er würde wie eine Wachskerze über einem Feuer dahinschmelzen. Ihm wurde warm, sehr warm, also trank er das Erstbeste an Flüssigkeit in einem Zug. Den Whiskey. Er keuchte auf, so als hätte er Chilisoße getrunken und wedelte schnell Luft in den offenen Mund hinein. Sie lachte und er fühlte sich elend. Vermasselt, aus und vorbei, mit der hatte er keine Chance mehr. Geknickt stand er auf, endschuldigte sich und schritt davon. Doch plötzlich fasste ihn jemand an der Schulter. Er drehte sich um und das war sie, die Rothaarige. „Entschuldige, ich wollte dich nicht auslachen. Ich hatte bloß gedacht, neben mir verreckt gerade eine Ente“, sagte sie mit engelsgleicher Stimme. „Naja, ich vertrage eben nichts. Du darfst mich nicht hören, wenn ich den Kräuterschnaps meiner Tante trinke“, meinte er darauf und sie kicherte wieder. Peter setzte sich neben sie und reiche ihr die Hand. „Ich bin Peter.“ „Sarah“. Langsam verschwanden die Leute, doch sie saßen weiterhin da und sprachen über Gott und die Welt. Als dann auch der Barkeeper die beiden rausschmiss, denn auch er wollte nach Hause, standen sie in der frischen Nachtluft sich gegenüber. „Und was fährt so ein Frauenheld wie du?“, fragte Sarah. „Ein umweltfreundliches Fahrrad, aber das Leder vom Sitz ist von Prada, der Rest ist Müll.“ Beide lachten und fuhren zu Sarahs Wohnung, sie auf dem Gepäckträger eng an seinen Rücken geklammert. Genlemenlike führte Peter sie vor die Haustür. „Der Abend war sehr schön, vielleicht wollen wir das wiederhohlen, dann können wir testen, welche Getränke dir noch nicht bekommen.“ Er lächelte. „Dann brauch ich nur deine Nummer.“ Er reichte ihr sein Handy, doch sie ging zu seinem Fahrrad und schrieb sie auf den Gepäckträger. Ein sonderbares Mädchen mit sehr weichen Lippen, was Peter seit diesem Abend wusste.
… „Üuuuärr, keine Einzelheiten, da wird mir noch schlecht“, stieß Theresa aus und Jakob hielt sich den Finger in den Hals, um ein Würgelaut zu machen. Die Eltern lächelten sich nur verliebt an. Jakob wühlte derweil in einer der Kisten und zog ein heruntergekommenes Holzbrett heraus. „Was ist denn das?“, rief er verdutzt. „Ah, das ist das Brett vom Zaun des ehemaligen Schwimmbads“, berichtete Sarah verträumt. „Warum hast du das?“, fragte Peter verdutzt. „Ach, das ist noch aus meiner Schulzeit…“
… Donnerstagnacht. Angestrengt hetzten ungefähr ein Dutzend Schüler in Bikinis und Badehosen durch die sommerwarme Nacht auf dem Weg zum städtischen Schwimmbad. Seit Wochen plante Sarahs Klasse einen Ausflug dorthin, denn an ihrer Schule war es ein Brauch, dass jede Oberstufenklasse einmal dort „einbricht“ und sich auf einem der Holzbretter verewigt. Jetzt, kurz vor ihrem Abschluss, war diese Aktion unmöglich verschiebbar, denn in zwei Wochen bekämen sie ihr Abi. Sie rannten durch die Sträucher, bis sie zum besagten Zaun kamen. Er war ca. zwei Meter hoch und ohne Leiter nicht überwindbar. „Und was jetzt?“, fragte Milena. Zwei Jungs sahen sich verschmitzt an, ihre Sportskanonen. Und kaum hatten sie ihre Gedanken per Telepathie ausgetauscht, positionierte sich Ole mit dem Rücken zum Zaun, Mark nahm Anlauf, sprang in Oles gefaltete Hände und wurde von ihnen mit gewaltiger Kraft über die Bretter geschleudert. Wie Mark am nächsten Tag erzählte, wäre er mit einer eleganten Ninjarolle gelandet, aber man konnte genau an seinen blauen Flecken sehen, dass das eine etwas ausgeschmückte Fassung seines unvorteilhaften Sturzes war. Trotz jener Flecken und dem Knacks an seinem Ego reichte er die Leiter des Rettungsschwimmersitzes über den Zaun. Schnell stiegen sie hinüber und sprangen sofort in das blaubeleuchtete Becken. Sie tauchten Köpfe unter, spritzten mit dem Wasser um sich und vollführten tollkühne Sprünge vom Sprungbrett. Die Mädels schrieben mit der schönsten Schrift: Abschlussjahr ´83 auf eines der Bretter und alle unterschrieben. Plötzlich schaltete sich die Beleuchtung des Innenbereiches an und man hörte schwere Schritte die aus dem Hauptgebäude. Orte zum Verstecken gab es im Außenbereich nicht und die Leiter stand noch immer auf der anderen Seite des Zaunes. Die Schritte näherten sich und ein Taschenlampenschein flackerte über das Wasser. Sie saßen in der Falle. Sarah bewegte das Brett mit ihrem Kunstwerk und bemerkte, zum Glück aller Beteiligten, das es locker war. Die Jungs rissen es weg, was den Nachtwächter auf den Plan rief. „He ihr da drüben, hiergeblieben!“, schallte es zu den Teenagern herüber, die sich in Windeseile durch das Loch schlängelten und mit dem Brett lachend durch den Park rannten, denn eins war sicher sein: Der Wächter mit seinem Bierbauch würde nie durch das Loch passen.
… „Wir haben uns geeinigt, dass ich das Brett behalten darf und dass wir es irgendwann zum Jahrestreffen wieder an seine alte Stelle bringen“, beendete Sarah ihre Rückblende und strich über die alten Unterschriften. „Mama, du warst ja richtig Gangster“, staunten die Kinder nicht schlecht und sahen ihre Mutter bewundernd an. „Tja, ich war nicht so ein Langweiler wie euer Vater“, schmunzelte sie und Peter stach ihr in die Seite, worauf sie zu lachen begann. „Ich geb euch gleich Langweiler“, warnte er und schloss alle in seine Arme und wirbelte mit ihnen über den Dachboden, sodass der Staub wieder eine Wolke bildete.
„Herr Hansen, wir sind fertig. Sollen wir noch die Kisten da neben ihnen wegschmeißen?“, fragte einer der Möbelpacker von der Treppe aus. Herr Hansen hielt kurz inne und schüttelte den Kopf: „Das kommt mit ins neue Haus.“ Strahlend nahmen die Hansens die Kisten und trugen sie hinunter in den Transporter.
Denn auch in einem neuen Haus, in dem man ganz neu beginnt, braucht man ein paar Erinnerungen, die die leeren Nischen ausfüllen und einem ein wohliges Gefühl in der Magengrube verschaffen, egal wie banal es ist, solche Dinge zu behalten, denn sie gehören zu einem, ob man will oder nicht.

Nora Nelson

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