Mal wieder etwas Geschriebenes von Schülern … Ein Essay zum „Parfum“ und der Gattungsfrage des Romans

Mal wieder etwas Geschriebenes von Schülern … Ein Essay zum „Parfum“ und der Gattungsfrage des Romans

„Es wird einen zweiten Prozess geben. Ich werde der Mutter des kleinen Max in die Augen schauen und sie wird wissen, dass ihr Junge noch über ein Jahr gelebt hat. Dass es sogar eine reelle Chance gegeben hätte, ihn zu befreien […] Und dann werde ich ihr nach der Urteilsverkündung in die Augen schauen und die Wut und den Schmerz und die Verzweiflung sehen, und dieses Bild werde ich in meinen Gedanken konservieren und immer, wenn ich mich an ihm erfreuen will, abrufen“, so schreibt der Massenmörder Guido Tramnitz in Sebastian Fitzeks „Der Insasse“, einem Psychothriller. Diese Figur hat einige Ähnlichkeiten mit der Hauptfigur Grenouille aus Süskinds „Das Parfum“ von 1985. Beide sind Serienmörder und beide werden gefasst, doch zwischen ihnen liegen knappe 40 Jahre.

Was ist es, dass uns so begeistert an bizarren Morden? Was treibt uns an, jeden Sonntag den Tatort zu sehen? Was macht den Tod so anziehend? Patrick Süskind feiert mit dem Roman weltweiten Erfolg; 49 Sprachen, 20 Millionen verkaufte Exemplare und nach fünf Jahren immer noch Platz 4 der Spiegelbestsellerliste. Der damals 35-jährige, aufgewachsen in Bayern, verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst nur mit Drehbuchschreiberei und nach dem Debüt mit seinem Parfum wurde es wieder still um ihn. Tatsächlich gibt es nur vier Interviews mit dem Bestsellerautor, denn er hält sich aus der Öffentlichkeit fern, diverse Preise lehnte er deswegen ab. Die Frage steht im Raum: Was macht diesen Roman so einzigartig? Der Autor selbst will diese Frage wohl nicht beantworten. Zurückgezogen wie er lebt, kann man sich kaum erklären, wie sich ein Mensch eine solche Geschichte erdenkt. Ein merkwürdiger Kauz könnte man meinen, wenn er sich in einem Interview mit der Weltkompakt den Welterfolg des Buches damit erklärt, dass die Deutschen so ordentlich und sauber seien und nur etwas bräuchten, um auf die dreckigen Franzosen wettern zu können. Ein guter Deutscher lebt nur mit einem gesunden Franzosenhass, das kennt und schätzt ein jeder, allerdings spricht dieser Roman ein äußerst breites Publikum an, selbst Franzosen. „Kraftvoll und mitreißend. Seine Wirkung wird noch lange anhalten“, schreibt die New-York-Times. 2005 verfilmt Tom Tykwer die Geschichte dieses Mörders unter Starbesetzung, wie Karoline Herfurth als Mirabellenmädchen , Dustin Hoffmann als Parfümeur Baldini und Alan Rickman als Antoine Richis. 

Alan Rickman wird den meisten von den jungen Menschen eher als Snape aus der Harry-Potter-Reihe bekannt sein. Auch diese Bücher, die von dem kleinen Zauberer handeln und Mut und Freundschaft thematisieren, auch diese Bücher leben mit einem mordenden Bösewicht in sich – Voldemord. Einer, dessen Name nicht genannt werden darf und Grenouille, dessen Name nicht gekannt wird. Ein weiteres Buch, das auch nicht so bekannt ist, ein großes Sammelband von mehreren Autoren, der neuere Teil als Biografie angelegt, handelt auch von Bösem – die Bibel. Auch sie handelt von verführenden Schlangen, einem Bruder, der seinen eigenen tötet sowie einem Massenmord an Jünglingen und und und. Sogar ein Erotik-Roman wie „50 Shades of Grey“ dreht sich um Dominanz und der Erfüllung im Schmerz anderer.

 Irgendetwas scheint uns daran zu faszinieren, die Seele den Körper entweichen, die Integrität eines menschlichen Wesens zum Objekt schwinden zu sehen. Es begleitet viele Romane und Filme, in beinahe allen Genren, nicht nur Thriller und Krimis. Ein solcher zeichnet sich durch eben die Aufklärung eines Verbrechens aus, mithilfe eines Detektivs, der das Mysterium um Motiv und Täter löst. Ein Sherlock Holmes, der alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert und die unlogische, obwohl unmöglich, unweigerlich für richtig erklärt. 

Der Roman „Das Parfum“ könnte man mit Sicherheit in die Verbrecherliteratur ordnen: Zu ersichtlich ist der Kern, die Planung und Durchführung der Morde, im Verlauf des Buches, nicht umsonst trägt es den Untertitel „Die Geschichte eines Mörders“, der aus toten Leichen von Jungfrauen die Essenz eines einzigartigen Duftgemisches herstellt. Im dritten Teil des Werks wird die Prozedur der Enfleurage, die Grenouille bei Laure Richis betreibt, genauestens beschrieben. Mit welcher Akribie der Parfümeurgeselle  den Leichnam in fettbestrichene Tücher wickelt, jeden Fleck von Haut bedeckt, um kein Molekül ihres Geruchs zu verlieren.  Es grenzt an ein künstlerisches Meisterwerk, wie der Pariser Bursche sein Handwerk beherrscht, ein Grund, weshalb man den Roman als Künstlerroman sehen dürfte. Eindeutig wird das Geruchsgenie seit seiner Kindheit in seiner Umgebung beleuchtet, was er schafft und kreiert. Auch das Missverständnis der Gesellschaft, warum er für sein Lebenswerk, das beste Parfum der Welt, 24 Frauen ermordet, spiegelt eine gewisse Künstlerproblematik wieder. Ist das Kunst oder kann man das weg-kippen? Also ist Grenouille ein unerhörter beziehungsweise un-errochener Geist? Allerdings scheint mir der Vergleich zu Mozart oder Da Vinci äußerst unpassend, beide keine Franzosen. Des Weiteren vertritt die angewandte Kunst nicht den größten Teil des Buches, es geht auch um seinen Werdegang abseits der Geruchsbühne. Wie bei „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ leiten die Begegnungen und Entscheidungen dazu, dass der Hauptcharakter bewusstseinsverändernde Mittel schnüffelt, in diesem Falle an einem Flakon eu  de Laure. Ein Grund, weshalb Grenouille Akteur eines Entwicklungsromans sein könnte. Romane solcher Gattung schildern die seelische und psychische Entwicklung seiner Hauptfigur inmitten der Umwelt, den Reifeprozess durch Verarbeitung von einschlägigen Erlebnissen. 

Insgesamt hat Süskinds Werk biografische Züge (und Lokomotiven), wenn man längere Gedankenmonologe von Monsieur Baldini außen vor lässt; Grenouille lernt, sich zurechtzufinden, zumindest an der Oberfläche. Seine wahren Eigenheiten versteckt er unter dem Deckmantel des Gesellentums der Parfümerie, woher er seine ausgereiften Techniken erlernt, die ihn zu seinem parfumeurischen Zenit führen. Und wie auch für einen Entwicklungsromans nicht unüblich, schließt die Erzählung mit dem Suizid durch Kannibalismus; um das Geschehen in naheliegende zeitgeschichtliche Ereignisse zu betten: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.

Ähnlich wie nach einem üppigen Weihnachtsessen bei den Großeltern steigt nach Beendigung des Buches ein etwas unwohles Gefühl in der Magengegend auf. 

Der Autor schafft es tatsächlich, das einem der Protagonist leidtut, ein Mann, der über fünfmal so viele Leben auf dem Gewissen hat wie Jack the Ripper. Wie kann das sein? Man kann doch nicht einfach alle Gräueltaten mit einer schlimmen Jugend begründen! Wo kämen wir dahin? Der Richter sagt doch auch nicht: „Mein liebes Mädchen, dieser pädophile hässliche Mann hat dich zwar gegen deinen Willen mehrmals vergewaltigt, aber der hat halt nicht seinen Nachtisch bekommen, den man ihm mit 5 versprochen hatte. Tut mir jetzt auch leid, hättest du da eben keinen kurzen Rock mit Cupcakes drauf tragen dürfen.“ Nein, so funktioniert das einfach nicht. Und trotzdem bleibt eine gewisse Annäherung an das Waisenkind bestehen. 

Wie kann das sein? Meine Vermutung: Patrick Süskind hat einmal zu oft im Hexenkessel gerührt, sodass man nun nicht mehr entscheiden kann, ob grauenhaftes Monster oder talentiertes Genie. Wie auch immer, durch das Kombinieren der Genren entsteht ein Frankenstein der Literatur. „Anders als alles bisher Gelesene. Ein Phänomen, das einzigartig in der zeitgenössischen Literatur bleiben wird“, so schließe ich mich auch der Le Figaro aus Paris an, trotz Franzosenhass. Dem Autor gelingt es, ein Leben in einer kafkaesken Harmonie zwischen Genuss in der Kunst und Gräuel im wahnhaften Mord zu erschaffen. Ein wahrer Tanz auf dem Hochseil – nur ein Quäntchen Krimi oder eine Messerspitze Virtuosentum zu wenig, stürzt man in die Tiefe. Darum reiße ich nicht die Merkmalsfäden aus diesem geschickt gewebtem literarischem Teppich. Wie schon Grenouille feststellte: Man darf einen Duft nicht roh verwenden. Man muss ihn fassen, ein Duftdiadem schmieden, an dessen erhabene Stelle, zugleich eingebunden in andere Düfte und sie beherrschend, der eine Duft strahlt (vgl. Buchausgabr, S. 246 – Es gibt nur eine Ausgabe). 

Und so strahlt für mich die Entwicklung hin zum Verbrechen heraus, doch es sind natürlich nicht nur die Geschmäcker, die verschieden sind. Man muss sich selbst den Weg durch Süskinds märchenhaftes, witziges und zugleich fürchterlich angsteinflößendes Werk finden; am besten wie unser finsterer Held Grenouille – immer der Nase nach. 

Nora Nelson

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