Ein Jahrhundert nach Corona- Zeitzeuginnenbericht

Ein Jahrhundert nach Corona- Zeitzeuginnenbericht

Es ist 2120; Ein Jahrhundert nach der berühmtberüchtigten Coronakrise fanden sich Aufzeichnungen einer jungen Entdeckerin. Das Erhalten dieser wichtigen Schriftstücke war nur möglich, da sie jene zwischen Nudeln und Toilettenpapier in einem Mehlsack versteckt hatte. Diese Memoaren geben Aufschluss über die genauen Vorgänge der Zeit, die wir nun nicht mehr aus Berichterstattungen von Zeitzeugen ziehen können. So berichtet die Abenteuerin von ihrem ersten Kontakt mit der neuen Welt.

Liebes Tagebuch,

Wie geht es dir? Mir geht es ganz gut. Es hat sich so viel verändert in letzter Zeit. Ich kann mich nicht mehr mit meinen Freunden treffen und so, das ist voll blöd. Seit Wochen lese was von Corona in den Nachrichten, das sich verbreitet. Ich dachte, man muss sich das kaufen, im Getränkemarkt steht das doch neben dem Radeberger.

Zwischen den Zeilen macht sich das Grauen bereits erkennbar. Die Unwissenheit über das eigentliche Problem setzt dem alltäglichen Leben zu. Im Verlauf der nächsten Wochen sollte sich das Drama zuspitzen, sogenannte Ausgangssperren wurden verhängt.

Liebes Tagebuch,

Du wirst es nicht glauben. Meine Lehrer haben gesagt, dass die Schule wohl in nächster Zeit ausfällt. Ich meine, das ist super. Kein Unterricht mehr, lange ausschlafen und keine doofe Franzi, die mit ihren neuen Schuhen angibt. Ich bin froh, dass ich die nicht mehr sehn muss. Ist voll die doofe Kuh, aber manchmal gibt sie was von ihren Gummibärchen ab. Das ist voll nett, ich mag sie total. Wir sind die besten Freundinnen für immer. Ich werd sie total vermissen.

Man erkennt schon nach kurzer Zeit erste Mangelerscheinungen des sozialen Kontaktes bei der jungen Forscherin, die sie in ihren Aufzeichnungen preisgibt. Es gibt eine Lücke vom 14. März bis zum 16. April, welche die unbeschreiblichen Umstände der Zeit unterstreicht.

Liebes Tagebuch,

Ich habe so viel zu erzählen. Aber ich habe gerade keine Lust. Ich kämme gerade allen meiner kleinen Ponys die Mähne. Bis später.

Der gespannte Leser erkennt: Diese Zeilen könnten aus einem Horrorfilm stammen. Die Sprachlosigkeit über die vergangenen Ereignisse fährt einem unter die Haut. Die Verzweiflung inkarniert in einer Lustlosigkeit, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Vereinzelt berichtet die junge Frau über vergebliche Versuche der Erwachsenen, ihrem Leben Struktur zu geben. Getarnt in Arbeitsaufträgen wollen sie Normalität vermitteln, doch dies ist nur wenig von Erfolg gekrönt. Richtig erkennt sie in einem ihrer Berichte:

Warum muss ich Hausaufgaben machen, wenn die Welt eh untergeht?

Zum großen Glück aller, schien sich die Lage zu beruhigen. Erste Schüler durften wieder zu Schule gehen. Nach und nach auch die junge Berichterstatterin. Vor ihrem ersten Tag in der Welt im Ausnahmefall schreibt sie:

Liebes Tagebuch,

morgen muss ich wieder zur Schule gehen. Das ist voll doof, ich hab gerade eine neue Staffel meiner Lieblingsserie gefunden und muss sie jetzt immer nur noch nachmittags gucken. Mama sagt auch, dass ich jetzt wieder öfter duschen muss. Mein Leben geht zu Ende. Zu meiner Beerdigung ist Mama nicht eingeladen.

Ein widerwilliges Verhalten, so sprechen auch heutige Experten, zeigen ihre Unsicherheit vor den neuen Gesetzmäßigkeiten, die auf die junge Dame warten. Abstand halten und Mundschutzmasken erinnern an die fehlende Nähe, die in den letzten Monaten herrschte. Neue Wege und kleinere Gruppen verändern das Bewegungsverhalten der Menschen. Schutzmaßnahmen lassen einen normalen Alltag nicht zu. So beschreibt sie die fast dekorativen Kampfausrüstungen der umgebenden Personen.

Ich muss jetzt immer so eine komische Maske tragen. Meine Lehrer sagen, dass jeder selbst für sie verantwortlich ist. Manche kaufen sich welche, andere haben Selbstgenähte. Oma hat auch eine für mich gemacht, Papa sagt aber, die bringen nichts. Er gibt mir eine andere, weil ich zu einem “Systemrelevanten Haushalt” gehöre, was auch immer das heißt.

Besonders aber betrifft die unglaubliche Forscherin die Folgen der Desozialisierung. Gerade die Art der Begrüßung scheint sie zu verwirren.

Liebes Tagebuch,

heute hab ich was Merkwürdiges gesehen. Wir dürfen uns ja jetzt nicht mehr als Hallo umarmen und so. Ich glaube, deswegen sind einige böse aufeinander, ich habe heute Tim und Mark gesehen, wie sie sich gleichzeitig an die Füße getreten haben und sich mit dem Ellenbogen geboxt haben. Sie sagen, das ist der Corona-Gruß, aber das sagen die bestimmt nur, damit sie keinen Ärger bekommen. Das mache ich demnächst auch, wenn ich Franzi an den Haaren ziehe, wenn sie wieder doof ist.

Im Verlauf ihres Gesamtwerkes werden ihre Ausführungen weniger, klären nur noch kurz das Geschehen bis zu ihrem letzten Eintrag, den wir in ungekützter Fassung zeigen.

Liebes Tagebuch,

ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt nicht mehr so oft schreibe. Franzi sagt, Tagebuchschreiben ist was für Babys. Ich bin kein Baby, also mache ich jetzt ein Freundebuch. Franzi kommt nicht rein, die ist mir zu kindisch. Aber die Micky Maus, die sie mir geschenkt hat, ist schön. Naja, es passiert hier eh nichts Besonderes mehr. Fast alles wird wieder normal. Also, mach’s gut. Tschüß.

PS: Aber wenn Franzi mir noch eine Minnie Maus schenkt, sind wir doch Freunde und sie darf ins Buch. Aber jetzt wirklich. Tschö

So enden die Ausführungen der jungen Entdeckerin. Sie geben mit ihren Handlungssträngen und den vielschichtigem Erzählverhalten unverwechselbare Einblicke in das Leben 2020 und es wird gemunkelt, dass man der Forscherin einen Orden des goldenen Toilettenpapiers posthum verleihen will. Das besagte Freundebuch wurde bislang leider nicht gefunden. Theoretiker vermuten, die doofe Franzi hat etwas damit zu tun, sicher ist man sich allerdings nicht.

Nora Nelson

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